Seit Big Tech die Macht übernommen hat, sind die Nutzer frustriert. Inhalte sind zu unübersichtlich, zu schwer oder gar nicht zu finden. Man muss den Nutzern die Freude an den Medien wiedergeben. Ein Gespräch mit Evan Shapiro, dem Vordenker der Bewegtbildbranche
Sie sind ein preisgekrönter Produzent von Fernsehfilmen und Podcasts, aber vor allem als Kartograf des Medienuniversums bekannt. Als was würden Sie sich selbst bezeichnen?
Evan Shapiro: Ich bin ein Creator. Damit verdiene ich mein Geld. „Kartograf“ ist mein Künstlername, weil sich meine kreativen Aktivitäten um diese Karten des Medienuniversums drehen, die ich erstelle und immer wieder aktualisiere. Ich begreife sie als eine Kunstform und ich nutze sie zugunsten einzelner Kunden. Aber ich veröffentliche sie auch über verschiedene Kanäle direkt für meine Follower.
Wie sind Sie auf diese Idee gekommen?
Also, ich habe diese Form nicht erfunden, ich habe einfach beschlossen, sie zu verwenden. So wie ein Porträtmaler sich entscheidet, die Form des Porträts zu verwenden. Auch Van Gogh hat Porträts gemalt, aber er hat die Form ja nicht erfunden. Nun will ich mich um Himmels willen nicht mit Van Gogh vergleichen – aber niemand hat das Porträt oder die Landschaftsmalerei „erfunden“. Picasso hat die Obstschale nicht erfunden, aber er hat eine neue Art erfunden, die Obstschale zu betrachten. Ich fand einfach, dass das Seifenblasendiagramm eine gute Metapher war. Ich nahm also ein Blasendiagramm und beschloss, es in eine Karte zu verwandeln. Und diese Karte zeigt jetzt das Medien-Ökosystem. Ich habe das gemacht, weil ich Studenten zu unterrichten hatte und etwas brauchte, vor dem ich eine Stunde lang stehen und Geschichten erzählen konnte. Wenn mir also jemand eine Frage stellte, konnte ich einen bestimmten Planeten auf der Karte finden und eine Geschichte über Spotify oder was auch immer erzählen.
Können Sie weitere Beispiele nennen?
Vor ein paar Jahren habe ich gesagt: „Nvidia ist 400 Milliarden Dollar wert und bald wird es eine Billion wert sein. Nvidia ist der nächste Billionen-Dollar-Todesstern.“ Heute ist Nvidia drei Billionen Dollar wert. Damals ging es anhand der Karte darum, eine Geschichte zu erzählen, die bereits geschehen war, nicht eine, die noch kommen würde. Big Tech hatte um 2020 herum die klassischen Medien überholt. Und wenn mich die Leute fragten: „Na ja, es ist doch nicht fair, Apple mit Netflix oder Disney zu vergleichen, oder?“, dann lautete meine Antwort: „Hundert Prozent der Menschen, die Netflix auf der Welt nutzen, müssen über Apple oder Google gehen. Sind diese Unternehmen also nicht im Medienbereich tätig?“ Tatsache ist, ein Großteil der Medien, die die Verbraucher nutzen, läuft derzeit über 5G oder über eine Plattform, die in den USA von einem dieser drei Unternehmen kontrolliert wird.
Wenn Sie auf die Karten zurückblicken, die Sie im Laufe der vergangenen sechs, sieben Jahre erstellt haben: Was sind die wichtigsten Veränderungen, die Sie bei der Entwicklung dieser Karten feststellen können? Sie haben Nvidia als großen Player genannt – ganz allgemein, was ist es?
Es sind besonders zwei Veränderungen. Zum einen haben die traditionellen Medien – und damit meine ich nicht Amazon, nicht YouTube und nicht Netflix, sondern Unternehmen wie Disney oder Fox – Direktvertriebsunternehmen gegründet. Allerdings läuft das Geschäft dort schlecht, weil sie nicht wissen, was sie tun. Sie werden immer besser darin, aber sie sind nicht mit allen Informationen, die man dafür braucht, an den Start gegangen. Das war der erste Punkt. Die zweite große Sache, auf die ich hinweisen möchte, ist der Einfluss der Creator-Wirtschaft: Durch deren Aufschwung beobachten wir die Konsolidierung und Schrumpfung der professionellen Content-Wirtschaft – sie wird durch Inhalte von Kreativen, die diese direkt vermarkten, zum Teil verdrängt. In den USA ist das schon auf dramatische Weise geschehen und in Europa wird das auch passieren. Kommerzielle Unternehmen werden schrumpfen und sie oder ihre Dienste werden fusionieren. Nur die öffentlich-rechtlichen Medien werden in relativ unveränderter Form bestehen bleiben, jedenfalls in den nächsten zehn Jahren.
Die öffentlich-rechtlichen Medien gewinnen also an Bedeutung?
Ganz klar. Nicht in den USA, aber in Europa und besonders in Deutschland. Schauen Sie, Sie haben zwei sehr unterschiedliche, sehr starke öffentlich-rechtliche Medien, die, wenn man sich das genauer anschaut, zum Teil in Konkurrenz zueinander stehen. Ich sage nicht, dass sie fusionieren sollten, aber sie könnten zum Beispiel in Bezug auf ihren Streaming-Dienst zusammenarbeiten. Das wäre eine gute Sache. Weil die Disneys und Amazons künftig nicht mehr so viel einkaufen werden wie bisher – vor allem im Bereich der Drehbücher nicht –, wird es für die Filmschaffenden große Umstellungen geben. Selbst Netflix wird sein Kaufverhalten ändern und in Deutschland nicht mehr so viel finanzieren wie in der Vergangenheit. Und das wird, wie gesagt, die Bedeutung der öffentlich-rechtlichen Medien erhöhen.
Worauf wird es in Zukunft für unsere Industrie ankommen?
Es geht darum, flexibel zu sein und alles auf den Benutzer auszurichten. Wie Sie das machen sollen, kann ich Ihnen nicht sagen. Das ist bei jeder einzelnen Einrichtung anders. Nehmen Sie zum Beispiel die New York Times, ein uraltes, verkrustetes, enorm schwerfälliges Medienhaus. In diesem Fall ging es darum, von der Papierauslieferung per Diesel-Lkw erfolgreich auf ein rein digitales Abonnement umzustellen. Und wie haben die das hinbekommen? Sie haben aus der „Old Gray Lady“ ein vielseitiges Lifestyle-Paket gemacht, einschließlich des besten Podcast-Betriebs auf dem Planeten Erde und der besten Spieleplattform. Ich weiß, dass mir das die Leute, die beim Fernsehen arbeiten, vielleicht nicht glauben – aber wenn man sogar die Times in ein neues digitales Produkt für das nutzerzentrierte Zeitalter umwandeln kann, dann kann das wirklich jeder irgendwie hinkriegen. Es geht darum, dass wir uns dazu entschließen, die Technologie so zu nutzen, dass der Benutzer im Mittelpunkt steht. Das ist der Haupteinfluss der Technologie auf das Medien-Ökosystem. Das ist es, was mit der ersten Karte begonnen hat. Big Tech hat die Macht übernommen. Und raten Sie mal, was passiert ist? Die Nutzer verwenden jetzt Big Tech, um sich in den Medien zu bewegen. Big Tech hat also die Kontrolle über das Ökosystem der Medieneinnahmen. Aber was genutzt wird, was angeschaut wird, wann und wo, und wohin sich das alles entwickelt, liegt wirklich in den Händen des Nutzers.
Ist Ihr iPhone das Erste, was Sie morgens anfassen?
Ja, natürlich.
Ist es das Letzte, was Sie nachts anfassen?
Nein, nicht wirklich (lacht). Aber die meisten Menschen würden mit „Ja“ antworten, weil das iPhone die Fernbedienung ist, mit der sie ihr Leben steuern.
Sie sagten, die richtige Art des Messens sei wichtig – und wir tun es nicht. Für die Aggregation gilt das Gleiche. Warum machen die Tech-Unternehmen oder die Anbieter von Inhalten, die mit den Urhebern zusammenarbeiten, das nicht?
Im öffentlich-rechtlichen Bereich herrscht die Angst vor dem, was dann passieren wird. Im kommerziellen Bereich herrscht die Überzeugung: Mein Inhalt ist großartig, aber es ist mein Inhalt. Nur meiner! Bei den Öffentlich-Rechtlichen herrscht die Angst vor dem, was dann passieren wird. Das ist mir in einer Reihe von Workshops mit verschiedenen öffentlich-rechtlichen Medien klar geworden und das schließt die Europäische Rundfunkunion übrigens mit ein.
Angst wovor?
Vor dem Unbekannten. „Wir können unsere Inhalte nicht auf dieser Plattform veröffentlichen, weil wir dort nicht die richtige Zuschreibung bekommen.“ Ich höre dann dutzendweise verschiedene Ausreden dafür, warum man als öffentlich-rechtliches Medium auf keinen Fall YouTube als Sendeplattform nutzen kann. Ich verstehe, dass das nicht ganz einfach ist. Aber das ist die Nummer eins auf jedem Fernseher überall auf der Welt. Menschen im Alter von unter 30 Jahren, die Millennials, Gen Z und Gen Alpha, sind es nicht mehr gewohnt, öffentlich-rechtliche Medien zu sehen. Und die werden Generationen verlieren, wenn sie sich nicht auf die Art und Weise einlassen, wie diese Leute Medien konsumieren. Aus wirtschaftlichen Gründen sollte es den öffentlich-rechtlichen Medien egal sein, ob sie die anfallenden Werbeeinnahmen eins zu eins kassieren können. Das sollte keine Rolle spielen, denn das Geld der Öffentlich-Rechtlichen kommt von den Menschen in Europa. Das soll sie in die Lage versetzen, Dinge zu tun, die kommerziell nicht möglich sind, zum Beispiel YouTube als einen neuen Übertragungsweg zu nutzen. Man muss YouTube als Kollaborateur, als Partner sehen, nicht nur als Feind. In zehn Jahren, wenn ein neues Mediengesetz kommt, wird Relevanz für die öffentlich-rechtlichen Medien viel wichtiger sein als Geld. Die haben die Unterstützung ihres lokalen Umfelds in einer Weise, die Netflix oder Amazon niemals haben werden. Netflix und Amazon und der Rest sind dabei, sich bei den neuen Inhalten etwas zu beschränken – und das ist eine Chance. Das ist wichtig für die Produzenten und die öffentlich-rechtlichen Medien. Man muss allerdings die Leute auch auf den Kanälen bedienen, die sie nutzen. In Europa ist der Aufstieg sozialer Medien eine Möglichkeit, dass Menschen auch durch die öffentlich-rechtlichen Anstalten mit Nachrichten versorgt werden. Es ist alarmierend, wenn man liest, dass Leute den offiziellen Informationsquellen nicht trauen. Die öffentlich-rechtlichen Medien haben die Möglichkeit, das zu korrigieren und anzugehen, aber sie müssen umschwenken und die Plattformen akzeptieren, auf denen ihre Nutzer sind, und das ZDF, wie ich glaube, nutzt immerhin YouTube sehr aggressiv.
Apropos „umschwenken“: Sie raten den Medien: „Stellt eure Inhalte dort ein, wo der Nutzer ist, und kümmert euch nicht um die Kanäle, die ihr jahrzehntelang aufgebaut habt.“ Ist das richtig?
Im Grunde schon, ja, zu einem gewissen Grad. Die New York Times ist eine gute Fallstudie, weil es dort Lektionen gibt, die auf alles andere anwendbar sind. Da wurde nicht gefragt: „Wie bauen wir uns ein neues Publikum auf?“ Die Leute von der New York Times haben sich einfach auf das besonnen, was ihre Leser lieben. Sie haben nicht geplant, die Abonnentenzahl auf 100 Millionen zu erhöhen, aber sie haben schon 11 Millionen Nutzer. Sie sagten sich: „Unsere Nutzer lieben Puzzles? Also kriegen sie Puzzles! Unsere Nutzer lieben Podcasts? Also machen wir Podcasts!“ Kochen, Sport – sie haben die App angepasst und mit alldem geflutet! Das war schon mal das Erste. Das Zweite waren Veränderungen in der Unternehmenskultur. Die New York Times hat Menschen als Verantwortliche an Projekte auf den Plattformen gesetzt, die zwischen 20 und Mitte 30, also quasi Nutzer, sind. Wer das nicht macht, wird über kurz oder lang zum Verlierer werden. Vor allem gegen Amazon, Google und Meta. Die kontrollieren 60 Prozent des Werbemarktes. Man muss sich fragen: „Wo sind meine Nutzer und wie baue ich eine Beziehung zwischen uns auf, anstatt Tag für Tag nach neuen Nutzern zu suchen?“ Es geht nicht immer darum, ständig mehr Leute zu bekommen. Sehr oft geht es darum, die Kerngruppe zu erhalten und davon ausgehend organisch zu wachsen.
Das Beispiel zeigt gut, dass es sich hier um Veränderungen auf vielen verschiedenen Ebenen handelt. Vielleicht ist das in seiner Komplexität das, was den Entscheidungsträgern Angst macht, weil sie es einfach nicht verstehen?
Denken Sie nur an die Zahl der Unternehmen, die immer noch einen Großteil ihrer Content-Media-Rechte über Excel verwalten. Da muss sich viel ändern. Das ist nicht ein einziger Pinselstrich, wie John Waters sagen würde, es ist die gesamte verdammte Leinwand, die Palette und die Farben – die Veränderung betrifft alles. Sie können diese Veränderung nach und nach vollziehen, aber einfach das Fernsehgeschäft beizubehalten und es über Streaming laufen zu lassen, wird sicher nicht die Antwort sein. Und das ist der Grund, warum jeder so viel Probleme hat. Es ist alles andere, was damit einhergeht. Der Wandel fällt auch deshalb schwer, weil Big Tech die Kontrolle übernommen hat. Sie haben einen Großteil des Werts aus dem Medien-Ökosystem einkassiert, wenn man sich Umsätze und Marktbewertungen und alles andere ansieht. Aber sie haben nicht wirklich das Sagen – das Sagen hat der Nutzer. Schauen Sie sich einfach Apple an: Die erheben keine Abogebühren; alles, was sie tun, ist, gute Fernbedienungen für den Verbraucher herzustellen. Der Nutzer hat definitiv das Sagen – und er ist frustriert. Er hat das Display, das er morgens als Erstes in die Hand nimmt, und er hat das Display, das an der Wand hängt. Er sieht das als eine Schnittstelle. Er hat kein Interesse an den verschiedenen Unternehmen – Netflix, Spotify, ZDF, ARD. Wie ich als Nutzer an all die Inhalte über diese Schnittstelle komme, ist einfach schrecklich. Und das ist ganz und gar unsere Schuld. Wir können das in Ordnung bringen. Aber wenn man den Nutzer nicht in den Mittelpunkt stellt und die Dinge durch seine Augen sieht, ist das nicht umsetzbar. Man wird es nie reparieren.
Also wirklich darauf zu achten, das würde einen in die Position bringen, diese Veränderung voranzutreiben und zu überleben, richtig?
Wir müssen den Nutzern die Freude an den Medien zurückgeben. Und wenn wir das schaffen, dann werden diese Unternehmen lernen, nicht nur zu überleben, sondern sich zu entwickeln. Die New York Times macht es ziemlich gut, Amazon ebenfalls.
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