DER MENSCH DENKT. HOFFENTLICH

DER MENSCH DENKT. HOFFENTLICH

ist Professor für kognitive Soziologie an der Universität Paris

Was machen wir mit der kostbaren „Gehirnzeit“, die wir dadurch gewinnen, dass wir unseren Geist von allen Routinearbeiten entlasten und sie von Maschinen erledigen lassen? Mit diesen fünf Stunden, die uns täglich bleiben, wenn wir
die Zeit abziehen, die wir für Schlafen, Essen, Beruf und andere notwendige Tätigkeiten aufwenden müssen? Wir gehen fahrlässig mit diesem „kostbarsten aller Schätze der uns bekannten Welt um“, sagt der französische Soziologe
Gérald Bronner. Denn wir verschwenden unsere Zeit in der digitalen Welt, statt über die Zukunft der Menschheit nachzudenken.

Die Kaugummiindustrie befindet sich in einer Krise. Seit mehreren Jahren befinden sich ihre Absätze buchstäblich im freien Fall, vor allem in Frankreich, das hinter den USA der zweitgrößte Konsument dieser Süßigkeit ist. Wie ist es dazu gekommen? Um das zu verstehen, muss man wissen, dass Kaugummi nur selten auf der Einkaufsliste steht. Es handelt sich vielmehr um einen Impulskauf, den wir in letzter Minute tätigen, wenn wir an der Kasse Schlange stehen müssen. Die Kaugummihersteller nutzen diesen Umstand für ihre Verkaufsstrategie und stellen in der Nähe der Kassen Verkaufsständer auf, die zusammengenommen viele hundert Kilometer ergäben. Die Einrichtung automatischer Kassen ist für ihre Strategie nicht günstig, denn die Verkaufsständer sind dort kleiner, sodass die Kaugummimarken inzwischen gut 20 Kilometer Präsentationsfläche verloren haben. Das ist jedoch noch nicht alles. Unsere Kinder drängen uns nicht mehr so stark zum Kauf dieser Süßigkeiten (mit denen sie sich ruhigstellen lassen, während wir an der Kasse warten), und auch wir selbst kommen nicht mehr so oft auf diesen Gedanken, da unsere Aufmerksamkeit von anderen Dingen abgelenkt wird.

Weil Warten für Menschen einen unangenehmen Zustand darstellen kann, blickten wir bei dieser Gelegenheit bis vor Kurzem noch umher, sahen uns die Gesichter der übrigen in der Schlange Wartenden oder den Inhalt ihrer Einkaufswagen an – und warfen gelegentlich auch einen Blick auf die Süßigkeiten, die vor der Kasse aufgestellt waren und uns in Versuchung führen sollten. Heute sind unsere Blicke und die unserer Kinder fest auf das Smartphone oder Tablet gerichtet. So ist unsere Aufmerksamkeit abgelenkt von den Präsentationen, die Süßwarenhersteller für uns ersonnen haben. Das Warten – und somit unsere mentale Verfügbarkeit – machte den Raum vor der Kasse zu einem strategischen Ort, doch aus genau denselben Gründen ist er inzwischen kontraproduktiv. Der bescheidene Anreiz, den diese Süßwarenständer darstellen, vermag nicht mit dem unseres Smartphones zu konkurrieren.

Weil Warten für Menschen einen unangenehmen Zustand darstellen kann, blickten wir bei dieser Gelegenheit bis vor Kurzem noch umher, sahen uns die Gesichter der übrigen in der Schlange Wartenden oder den Inhalt ihrer Einkaufswagen an – und warfen gelegentlich auch einen Blick auf die Süßigkeiten, die vor der Kasse aufgestellt waren und uns in Versuchung führen sollten. Heute sind unsere Blicke und die unserer Kinder fest auf das Smartphone oder Tablet gerichtet. So ist unsere Aufmerksamkeit abgelenkt von den Präsentationen, die Süßwarenhersteller für uns ersonnen haben. Das Warten – und somit unsere mentale Verfügbarkeit – machte den Raum vor der Kasse zu einem strategischen Ort, doch aus genau denselben Gründen ist er inzwischen kontraproduktiv. Der bescheidene Anreiz, den diese Süßwarenständer darstellen, vermag nicht mit dem unseres Smartphones zu konkurrieren.

Die tägliche Bildschirmzeit erreicht mit 12 Jahren durchschnittlich 4 Stunden und 40 Minuten. Die Jugendlichen bleiben dort allerdings nicht stehen, mit 18 Jahren verbringen sie täglich im Schnitt 6 Stunden und 40 Minuten vor Bildschirmen. Um den gewaltigen Umfang dieser Vereinnahmung zu verdeutlichen, verweist Michel Desmurget darauf, dass diese Zeit bei den jungen Menschen an der Schwelle zum Erwachsenenalter auf ein Jahr bezogen 100 vollen Tagen oder 2,5 Schuljahren oder auch „der gesamten Zeit“ entspricht,

„die Schüler eines naturwissenschaftlichen Gymnasiums von der 6. Klasse bis zum Abitur mit Unterricht in Französisch, Mathematik, Biologie und Erdkunde verbringen“. So formuliert, ist der Verbrauch unserer mentalen Verfügbarkeit durch Bildschirme sehr aussagekräftig, denn hier gilt das Gesetz der kommunizierenden Röhren. Was hier weggenommen wird, das wird dort nicht investiert. Man könnte sagen, auf den Bildschirmen geschähen doch aufregende Dinge, und junge Menschen könnten dort für geistige Bildung ebenso interessantes Material finden wie in einem Buch oder im Unterricht. Das trifft allerdings nicht zu, denn die Zeit verteilt sich dort folgendermaßen: 43 Prozent entfallen auf das Fernsehen, 22 Prozent auf Videospiele, 24 Prozent auf soziale Medien und 11 Prozent auf das Surfen im Internet. Das Lesen leidet ganz besonders unter dieser Konkurrenz in der Vereinnahmung unserer Aufmerksamkeit, denn wie aus den Zahlen für Frankreich hervorgeht, ist die dem Lesen (einschließlich der Lektüre von Online-Zeitungen) gewidmete Zeit seit 1986 um ein Drittel zurückgegangen.

Von besonderer Bedeutung für diese Verlagerung der Aufmerksamkeit ist das Smartphone. Zunächst einmal, weil die Zahl der weltweit verkauften Geräte in den letzten zehn Jahren gewaltig gestiegen ist und inzwischen 1,6 Milliarden Einheiten pro Jahr erreicht. Zudem, weil die Zeit, die wir im Durchschnitt auf dieses Gerät verwenden, ständig weiter ansteigt. Die Menschen verbringen heute 3,7 Stunden täglich an ihrem Telefon. Bei den Franzosen ist die Nutzung ein wenig besonnener (2,3 Stunden), hat aber gleichwohl innerhalb von zwei Jahren (2018 und 2019) um 27 Prozent zugenommen. Und schließlich, weil die geringe Größe dieser Geräte die Möglichkeit bietet, sie ständig bei sich zu tragen und pausenlos zu checken. Beim geringsten Leerlauf (im Verkehr, im Wartezimmer, auf der Straße) werfen wir einen Blick auf unsere Handys. Auch wenn wir uns mit Freunden unterhalten, mit anderen zusammen sind oder ganz allgemein während der Arbeit laden diese Geräte sich selbst an den Tisch unserer verfügbaren Gehirnzeit ein. Deshalb kommen manche bei der Berechnung der Besetzung unserer Gehirnzeit zu dem Ergebnis, dass diese wechselseitige Durchdringung zwischen unseren alltäglichen Aktivitäten und dem ständigen Checken der digitalen Welten zusammengerechnet auf Tage von 30 Stunden Länge und mehr hinausläuft. So glaubt Patino angesichts der gewaltigen Häufigkeit, mit der wir unseren Blick und unseren Geist den Bildschirmen zuwenden, dass sie zumindest in den USA schon bald die Hälfte unseres ganzen Lebens vereinnahmen werden. Das Eindringen der Bildschirme und Displays in unser alltägliches Leben ist offenkundig. Längst vergangen scheinen jene Zeiten, da öffentliche Verkehrsmittel Anlass zum Austausch von Blicken gaben, die schlichtes Einverständnis oder verliebte Zustimmung signalisierten. Heute fällt es schwerer, einem Blick zu begegnen, wenn wir unsere Mails checken oder eine Partie Candy Crush spielen. Allerdings lassen sich Liebesbeziehungen ebenso gut auf unseren Bildschirmen über Tinder und andere Dating-Apps anbahnen. So zeigt eine Untersuchung in den USA, dass sich heterosexuelle Paare inzwischen vermehrt über Online-Anwendungen finden.

Das ist neu, denn bis 2013 lernten sich Paare hierzulande nach dem traditionellen Muster kennen: über Freunde, die Familie oder die Arbeit. Heute kommen jenseits des Atlantiks vier von zehn Paaren durch die digitale Welt zusammen. Im 20. Jahrhundert wurde ein Drittel der Liebesbeziehungen von der Familie vermittelt. Dieser Weg macht heute nur noch 7 Prozent der Fälle aus. Frankreich hat dieses Stadium noch nicht erreicht, aber ein Viertel der Franzosen sind bei Dating- Websites registriert, und diese Zahl hat sich in den letzten 12 Jahren verdoppelt.

Als Universitätsprofessor habe ich erleben können, dass die Bildschirme auch in die Vorlesungssäle Einzug hielten. Das ging sehr rasch. Zunächst begannen einige, bald jedoch fast alle, mit einem Laptop in die Vorlesungen zu kommen. Ich vermeide nun, die Stufen des Vorlesungssaals hinaufzusteigen, wie ich es früher getan habe, damit ich nicht sehe, dass die meisten Studenten auf Facebook sind. Ich ahne es zwar, ziehe es aber vor, diese unaufhörliche wechselseitige Durchdringung der digitalen Welt und meiner Vorlesung nicht zur Kenntnis zu nehmen.



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