Klang trifft auf Code, Mythos trifft auf Maschine

Klang trifft auf Code, Mythos trifft auf Maschine

Eins vorab: Wagnerianer sind gewiefte „Ring“-Gänger. Sie wissen sofort, dass es sich um den Rhein handelt, wenn sie ein Waschbecken respektive ein Aquarium auf der Bühne sehen. Sie sind auch nicht irritiert, wenn Wotan als Zuhälter arbeitet oder Siegfried mit einer Kalaschnikow unterwegs ist. Nichts anderes erwarten sie ja. (Wie hat Heldentenor Christian Franz gesagt? „Als Siegfried ist man schon froh, wenn man nicht in den Rhein pinkeln muss.“) Nein, wirklich, Wagnerianer sind seit nunmehr fünfzig Jahren mit allen Wassern des deutschen Regietheaters gewaschen, denn an keinem anderen Opernkomponisten haben sich die Chéreaus, Castorfs oder Konwitschnys ja so beharrlich abgearbeitet wie an ihrem Liebling! Und wenn der Wagnerianer am Ende tatsächlich mal milde buht, dann bestenfalls, um dem bedauernswerten Regisseur mitzuteilen, dass er dem, was Friedrich Nietzsche mal die erste Weltumsegelung im Reich der Kunst genannt hat, nicht gewachsen war. 

Zur Sache: Am 13. August 1876 hob sich in Bayreuth zum ersten Mal der Vorhang fürs „Rheingold“. Vor 149 Jahren. Und dort entwickelte sich nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs auch der „Werkstatt“-Begriff. Das bedeutet, Inszenierungen wurden und werden in Bayreuth nach dem Premierenjahr einer kritischen Durchsicht unterzogen, hier und da verändert – nichts muss bleiben, wie es ist. Experimente sind generell gern gesehen. Mal gibt’s höheren Mumpitz, mal einen Geniestreich. 

Als die Festspiele jetzt verkündeten, dass es im 150. Jahr, also 2026, einen KI-„Ring“ geben wird, war das, gelinde gesagt, trotzdem eine Überraschung. Denn nie und nirgendwo ist so etwas bislang ausprobiert worden. Der weltweit allererste KI-Versuch an der Dresdner Semperoper vor drei Jahren zählt deshalb nicht richtig, weil dafür eigens ein neues Stück geschrieben wurde: „Chasing Waterfalls“ (Libretto: Christiane Neubauer mit GPT-3, Partitur: Angus Lee mit dem Berliner Studio for Sonic Experiences kling klang klong, eine phasenweise in Echtzeit komponierende, textende und singende KI wurde vorher monatelang von einer Sopranistin trainiert.) Das Ganze war unter dem Strich nicht mehr als ein Achtungserfolg – ein Kritiker schrieb, eigentlich sei nur der echte Wasserfall auf der Bühne erfrischend gewesen -, und auch der war nach nur drei Aufführungen schon wieder Geschichte. Jetzt also Bayreuth. Die gute Nachricht vorweg: Es gilt der Primat der Musik, die Künstliche Intelligenz wird da nicht singen. Sie wird nur als bildgebende Kraft zum Einsatz kommen, kann sich aber aus allen fünfzehn „Ring“-Inszenierungen bedienen, die es seit 1876 gegeben hat. 

Wir zitieren die Festspielleitung: Zum 150-jährigen Jubiläum der Bayreuther Festspiele erwartet das Publikum ein Experiment von visionärer Kraft: eine «Inszenierung», die nicht nur Richard Wagners Musikdrama aufführt, sondern seine Rezeptionsgeschichte in den Mittelpunkt stellt – durch eine visuelle Ebene, die sich stetig verändert, die erweitert, neu zusammensetzt und sich widerspricht. Zum ersten Mal in der Geschichte der Festspiele wird dabei Künstliche Intelligenz auf der Bühne mitspielen – nicht als Figur, sondern als bildgebende Kraft. Die Sängerinnen und Sänger stehen im Zentrum der Aufführung, in ruhiger, fast skulpturaler Präsenz. Ihre Körper werden zum Fixpunkt in einem visuell brodelnden Kosmos aus Licht, Textur, Geschichte und Assoziation, inmitten von Projektionen, die aufbrechen, sich permanent verschieben, miteinander verschmelzen. Was bleibt real, was ist Trugbild? 

Wo beginnt Erinnerung, wo endet Interpretation? Die Projektionen sind mehr als Bühnenbild – sie sind Reflexionsfläche eines 150-jährigen Diskurses. Die KI, die sie generiert, hat aus unzähligen Bildern, Stimmen, Dokumenten und Inszenierungen gelernt. Sie zeigt nicht den einen Ring, sondern viele: den nationalen Mythos, den gesellschaftspolitischen Umbruch, die künstlerische Sprengkraft, die romantische Utopie, den dekonstruierten Schatten. Jede Vorstellung wird einzigartig sein – weil auch die Bilder und Assoziationen nicht stillstehen. 

Das Projekt versteht den Ring als offenen Resonanzraum, als ein Werk, das immer von Neuem erzählt werden will – nicht trotz, sondern wegen seiner Geschichte. Die KI wird zum Spiegel der kollektiven Erinnerung, aber auch zur Projektionsfläche unserer heutigen Fragen: Wer erzählt Geschichte? Wer erzeugt Bilder? Und wem gehören sie? So verschränkt sich das Ewig-Gültige Richard Wagners mit der Flüchtigkeit digitaler Transformation. Klang trifft auf Code, Mythos trifft auf Maschine, Festspiele treffen auf Zukunft. Die Bühne wird zum Labor der Wahrnehmung, zu einem Ort, an dem Musiktheater nicht nur aufgeführt, sondern erforscht wird. Dieser Ring fordert heraus, lädt ein zur Kontemplation, zur Überforderung, zur Neugier. Es ist ein Ring der Fragen, nicht der Antworten. Und es ist ein Ring, der Bayreuth – diesen Ort voller Geschichte und Projektion – in ein neues Licht tauchen soll. Erleben Sie ein Musiktheater, das Vergangenheit und Zukunft zugleich ist, einen Ring des Nibelungen, der sich selbst befragt. Und vielleicht auch uns.“ 

„Ring 10010110“ nennt Bayreuth diese Unternehmung, für die kein Regisseur verantwortlich zeichnet, sondern ein „Kurator“: Marcus Lobbes. Jahrgang 1966. Ein Wagner-Novize. (Geschenkt, das war Christoph Schlingensief auch, als er 2004 seinen „Parsifal“ in Bayreuth inszenierte.)

Ein Mann, der bisher an mittelgroßen Theatern gearbeitet hat und seit 2020 der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität vorsteht. Allerdings bereitet sich ein Regieteam normalerweise drei Jahre auf eine „Ring“-Produktion in Bayreuth vor. Mindestens. Der KI-Ring ist, geschuldet den durch Tariferhöhungen zustande gekommenen Sparzwängen, also definitiv ein Billig-„Ring“. Das kann, muss nicht schlecht sein. Wie schwierig es ist, die KI auf Wagners Tetralogie einzuschwören, haben wir bei der Generierung unseres Bildes selbst erfahren. 

Eins kann man allerdings jetzt schon sagen: Musikalisch wird die Sache auf jeden Fall ein Knaller. Christian Thielemann dirigiert. Und der sagt: „Das Orchester sitzt so wie immer, ich sitze so wie immer, und die Sänger sind eigentlich auch an anständigen Stellen postiert. Jetzt muss man sehen, dass das szenisch nicht langweilig wird.“ Die Sänger, das sind zum Beispiel Klaus Florian Vogt (Siegmund, Siegfried), Camilla Nylund (Brünnhilde) und Michael Volle (Wotan). Toll. Wenn das, was die KI da auf der Bühne veranstaltet, zu fade wird, kann man ja einfach die Augen zu machen. 

verfasst von
Barbara Möller

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